Das Kagyü Mönlam in Bodhgaya

Von 22. Dezember 2010 bis 2. Jänner 2011 fand in Bodhgaya (Indien) das alljährliche „Kagyü Mönlam“ unter der Leitung S.H. des 17. Karmapa Trinlay Thaye Dorje statt. Neben den täglichen Rezitationen der mehreren tausend teilnehmenden Mönche rund um den Bodhi-Baum (dem Ort der Erleuchtung Buddhas) gab es ein umfangreiches Rahmenprogramm: Lama-Tänze, eine Chenrezig-Einweihung, eine zwölfstündige Mahakala-Puja und, als Höhepunkt, die Feierlichkeiten zum 900. Geburtstag des 1. Karmapa, des Oberhaupts der Karma Kagyü Linie des Tibetischen Buddhismus. Mein privates Programm bestand außerdem aus Besuchen der umliegenden Pilgerstätten Rajgir (dem Ort, an dem Buddha die ersten Mahayana-Belehrungen gab), der Ruinen der buddhistischen Universität Nalanda sowie der Mahakala-Höhlen, in denen Buddha sechs Jahre meditiert haben soll.

Meine Fotos vom Kagyü Mönlam auf Flickr
Hervorragende Bilder von Thule Jug und ein komplettes (englisches) Tagebuch der Ereignisse auf Facebook

Die Rückkehr der Anarchisten

Wenn P.J. Crowley, der Sprecher der US State Department, neulich den Wikileaks-Gründer Julian Assange als „anarchist with a political agenda“ bezeichnete, dann wusste er vielleicht gar nicht, wie recht er damit hat.

Über Assange wurde in den letzten Wochen viel geschrieben und ich habe nicht vor, die x-te Ferndiagnose zu stellen, ob der Mann ein Ego-Problem hat, ob er ein Vergewaltiger ist und ob das, was er macht, „moralisch gerechtfertigt“, „politisch sinnvoll“ oder einer „journalistischen Ethik folgend“ ist. Aber einen Teilaspekt finde ich spannend: Assange ist anscheinend Anarchist, und offenbar besonders geprägt vom Anarchopazifismus des Gustav Landauer.

Landauer wurde als anarchistischer Philosoph und Politiker und insbesondere als Leitfigur der Münchner Räterepublik bekannt. Der Anarchismus Landauers war ganz anders, als das, was man heute landläufig darunter versteht, er hatte nichts gemein mit finsteren Verschwörern, die Attentate auf „die Mächtigen“ planen. Landauer setzte zwar auf die „Propaganda der Tat“, verstand sie aber gänzlich anders als viele seiner Zeitgenossen:

„Wir meinen, keine Sprache kann laut und entschieden genug sein, um die Mitlebenden zum Aufraffen aus dem alten Schlendrian anzufeuern, anzuspornen zur Neubelebung unserer ganzen gesellschaftlichen Organisation, zur Erhebung aus der Geistesträgheit, zu energischer Tat, um Schranken zu brechen und neuen Boden für neue Saat zu bereiten. Das ist die Propaganda der Tat, wie ich sie verstehe; alles andere ist Leidenschaft oder Verzweiflung oder toller Unverstand. Nicht darum handelt es sich, Menschen zu töten, sondern es handelt sich im Gegenteil um die Wiedergeburt des Menschengeistes, um die Neuerzeugung des Menschenwillens und der produktiven Energie großer Gemeinschaften.“
Aus: „Der Anarchismus in Deutschland“ (1893)

So sieht sie also aus, die „Propaganda der Tat“ des 21. Jahrhunderts – fast 120 Jahre später. Assange bezog sich jahrelang direkt auf Landauer, indem er seinem ehemaligen Blog iq.org ein besonders programmatisches Zitat aus einem Artikel Landauers voranstellte (hier etwas ausführlicher zitiert, als Assange es tat):

„Einen Tisch kann man umwerfen und eine Fensterscheibe zertrümmern, aber die sind eitle Wortmacher und gläubige Wortanbeter, die den Staat für so ein Ding halten, den man zertrümmern kann, um ihn zu zerstören. Der Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält. Der absolute Monarch konnte sagen: „Ich bin der Staat“. Wir, die wir im absoluten Staat uns selbst gefangengesetzt haben, wir müssen die Wahrheit erkennen: Wir sind der Staat – und sind es so lange, als wir nichts andres sind, als wir die Institutionen nicht geschaffen haben, die eine wirkliche Gemeinschaft und Gesellschaft der Menschen sind.“
Aus: „Schwache Staatsmänner, schwächeres Volk!“ (1910)

In diesem Absatz ist eigentlich schon alles erklärt, was Assange mit Wikileaks tut und vor hat. Wikileaks hat eine radikale Agenda, es will den Staat nicht retten oder verbessern, sondern – mit friedlichen Mitteln – schlicht zerstören. Die Veröffentlichung der „Cablegate“-Dokumente (und auch schon die früheren Veröffentlichungen auf Wikileaks) zielen darauf ab, Mißtrauen zwischen den Staaten zu schüren und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihre Staaten (insbesondere in die USA als Leitmacht des Westens) zu erschüttern.

Die USA haben das klar erkannt und eine Vendetta gegen Assange und Wikileaks gestartet, die ihresgleichen sucht. Zunächst wich Amazon dem politischen Druck durch den einflußreichen Senator Joe Lieberman, und löschte Wikileaks von den Servern der hauseigenen Amazon Web Services (AWS). Kurz darauf löschte die Domainregistrierungsstelle EveryDNS die Domain wikileaks.org von ihren Nameservern und machte sie dadurch unerreichbar. Gestern folgte dann PayPal und nimmt nun keine Spenden für Wikileaks mehr entgegen. Über den Druck, den die USA derzeit auf Staaten ausüben, die Wikileaks unterstützen (oder zumindest nicht verfolgen), kann man derzeit nur spekulieren – vielleicht wird das bald Inhalt von „Cablegate 2.0″… :-)

Die USA reagieren also ausgesprochen unentspannt, und haben wohl auch allen Grund dazu. Denn die Veröffentlichung des brisanten Materials trifft das Netzwerk der internationalen Diplomatie an ihrer empfindlichsten Stelle: der unbeobachteten und vertraulichen Kommunikation zwischen der Zentrale und ihren Außenstellen in fast allen Ländern der Welt.

Man könnte sich also einfach zurücklehnen und das Match „USA vs. Assange“ entspannt allabendlich in den Nachrichten verfolgen. Umso erstaunlicher ist es, daß sich derzeit eine weltweite Welle der Solidarisierung mit Wikileaks formiert. Die Betreiber hunderter Webserver in aller Welt haben sich spontan bereit erklärt, die Cablegate-Dokumente zu spiegeln und über die Facebook-Seiten von PayPal und Amazon ist ein „Shitstorm“ tausender empörter User losgebrochen, die ihrem Unmut durch Entzug ihres „Likes“ oder gleich durch Löschung ihres jeweiligen Kontos Ausdruck verleihen.

Die Dramaturgie der auf Monate hin angelegten kontinuierlichen Veröffentlichung brisanter Dokumente aus den Cablegate-Akten wird jedenfalls dafür sorgen, daß die Spannung erhalten bleibt und der Unmut der Bürgerinnen und Bürger ebenso kontinuierlich weiter wächst. Ob aus diesem Unmut die Verwirklichung einer anarchistischen Utopie erwächst bleibt dahingestellt. Eher wahrscheinlich ist wohl, daß letztendlich wieder nur rechtspopulistische und autoritäre Strömungen davon profitieren werden. Eine „wirkliche Gemeinschaft und Gesellschaft der Menschen“ ist mit oder ohne Wikileaks nicht in Sicht.

Kinderpornorechteverwertungsindustrie

Neulich flatterte etlichen österreichischen Internet-Providern ein Anwaltsschreiben ins Haus. Nach einer umfänglichen Darstellung, wen dieser Anwalt aller vertritt (es handelt sich um diverse Größen der österreichischen Filmindustrie) und wo die Werke seiner Mandaten zum Download zur Verfügung stehen (nämlich auf in Rußland gehosteten Streaming-Servern), kommt er schließlich zur unmißverständlichen Forderung: Die Provider mögen den Zugang zu den Servern, auf denen die Filme zum Streaming angeboten werden, sperren, ansonsten drohe eine gerichtliche Durchsetzung des Unterlassungsanspruchs gegen die Provider. Nachsatz: „Wir wissen, dass solche Blockaden auch regelmässig (für andere Zwecke) praktiziert werden.“

Im Schatten der unseligen Kinderpornosperr-Diskussion, die nachweislich von der Contentindustrie mit angeheizt wurde, waren solche Unterlassungsaufforderungen früher oder später zu erwarten. Der Anwalt macht sich – entgegen früherer derartiger Begehren – auch gar nicht mehr die Mühe, mit tatsächlich vorgefallenen Urheberrechtsverletzungen zu argumentieren (was auch nichts ändern würde), es geht vielmehr ausschließlich darum, daß die Kunden der betroffenen Provider ihren Internetanschluß dazu nützen könnten, sich auf diesen Servern irgendwelche Filme oder Fernsehserien anzusehen.

Die ISPA, der Verband der österreichischen Internet-Provider, hat darauf prompt und, wie ich meine, korrekt reagiert: „Wir machen uns sicher nicht zu Erfüllungsgehilfen für Wegelagerer-Praktiken, mit denen abermals versucht werden soll, längst überholte Geschäftsmodelle zu retten“ schreibt die ISPA in einer Presseaussendung mit dem Titel „Copyright-Inhaber agieren wie Wegelagerer“ und zitiert ihren Generalsekretär Andreas Wildberger mit folgenden Worten: „Es ist ja wohl einmalig, dass sich die Rechteinhaber nicht mal mehr die Mühe machen, mit konkreten Downloads zu argumentieren sondern einfach damit, dass etwas der Fall sein könnte“, kommentiert Wildberger das fragliche Begehren, „Es könnte auch jemand, der auf der Autobahn fährt, in seinem Kofferraum schwarz kopierte Videos transportieren. Die ASFINAG macht den Transport erst möglich. Erhält die ASFINAG deswegen auch eine Unterlassensaufforderung?“.

Ich bin nur froh, daß die Diskussion über die Sperre von Kinderporno-Seiten bisher zu keinem Ergebnis geführt hat und hoffe, daß das auch weiterhin so bleibt. Vielleicht erkennen die zuständigen Politikerinnen und Politiker jetzt, daß es in der Debatte nicht um das Wohl mißbrauchter Kinder, sondern um die Interessen einer ganz anderen Industrie geht, die seit vielen Jahren versucht, ihre überholten Geschäftsmodelle zu retten, indem sie ihre Kunden verklagt und ihre kärglichen Gewinne lieber Horden von Anwälten und Lobbyisten in den Rachen wirft – anstatt sich neue Vertriebswege und Einnahmequellen einfallen zu lassen.