Die Rückkehr der Anarchisten

Wenn P.J. Crowley, der Sprecher der US State Department, neulich den Wikileaks-Gründer Julian Assange als „anarchist with a political agenda“ bezeichnete, dann wusste er vielleicht gar nicht, wie recht er damit hat.

Über Assange wurde in den letzten Wochen viel geschrieben und ich habe nicht vor, die x-te Ferndiagnose zu stellen, ob der Mann ein Ego-Problem hat, ob er ein Vergewaltiger ist und ob das, was er macht, „moralisch gerechtfertigt“, „politisch sinnvoll“ oder einer „journalistischen Ethik folgend“ ist. Aber einen Teilaspekt finde ich spannend: Assange ist anscheinend Anarchist, und offenbar besonders geprägt vom Anarchopazifismus des Gustav Landauer.

Landauer wurde als anarchistischer Philosoph und Politiker und insbesondere als Leitfigur der Münchner Räterepublik bekannt. Der Anarchismus Landauers war ganz anders, als das, was man heute landläufig darunter versteht, er hatte nichts gemein mit finsteren Verschwörern, die Attentate auf „die Mächtigen“ planen. Landauer setzte zwar auf die „Propaganda der Tat“, verstand sie aber gänzlich anders als viele seiner Zeitgenossen:

„Wir meinen, keine Sprache kann laut und entschieden genug sein, um die Mitlebenden zum Aufraffen aus dem alten Schlendrian anzufeuern, anzuspornen zur Neubelebung unserer ganzen gesellschaftlichen Organisation, zur Erhebung aus der Geistesträgheit, zu energischer Tat, um Schranken zu brechen und neuen Boden für neue Saat zu bereiten. Das ist die Propaganda der Tat, wie ich sie verstehe; alles andere ist Leidenschaft oder Verzweiflung oder toller Unverstand. Nicht darum handelt es sich, Menschen zu töten, sondern es handelt sich im Gegenteil um die Wiedergeburt des Menschengeistes, um die Neuerzeugung des Menschenwillens und der produktiven Energie großer Gemeinschaften.“
Aus: „Der Anarchismus in Deutschland“ (1893)

So sieht sie also aus, die „Propaganda der Tat“ des 21. Jahrhunderts – fast 120 Jahre später. Assange bezog sich jahrelang direkt auf Landauer, indem er seinem ehemaligen Blog iq.org ein besonders programmatisches Zitat aus einem Artikel Landauers voranstellte (hier etwas ausführlicher zitiert, als Assange es tat):

„Einen Tisch kann man umwerfen und eine Fensterscheibe zertrümmern, aber die sind eitle Wortmacher und gläubige Wortanbeter, die den Staat für so ein Ding halten, den man zertrümmern kann, um ihn zu zerstören. Der Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält. Der absolute Monarch konnte sagen: „Ich bin der Staat“. Wir, die wir im absoluten Staat uns selbst gefangengesetzt haben, wir müssen die Wahrheit erkennen: Wir sind der Staat – und sind es so lange, als wir nichts andres sind, als wir die Institutionen nicht geschaffen haben, die eine wirkliche Gemeinschaft und Gesellschaft der Menschen sind.“
Aus: „Schwache Staatsmänner, schwächeres Volk!“ (1910)

In diesem Absatz ist eigentlich schon alles erklärt, was Assange mit Wikileaks tut und vor hat. Wikileaks hat eine radikale Agenda, es will den Staat nicht retten oder verbessern, sondern – mit friedlichen Mitteln – schlicht zerstören. Die Veröffentlichung der „Cablegate“-Dokumente (und auch schon die früheren Veröffentlichungen auf Wikileaks) zielen darauf ab, Mißtrauen zwischen den Staaten zu schüren und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihre Staaten (insbesondere in die USA als Leitmacht des Westens) zu erschüttern.

Die USA haben das klar erkannt und eine Vendetta gegen Assange und Wikileaks gestartet, die ihresgleichen sucht. Zunächst wich Amazon dem politischen Druck durch den einflußreichen Senator Joe Lieberman, und löschte Wikileaks von den Servern der hauseigenen Amazon Web Services (AWS). Kurz darauf löschte die Domainregistrierungsstelle EveryDNS die Domain wikileaks.org von ihren Nameservern und machte sie dadurch unerreichbar. Gestern folgte dann PayPal und nimmt nun keine Spenden für Wikileaks mehr entgegen. Über den Druck, den die USA derzeit auf Staaten ausüben, die Wikileaks unterstützen (oder zumindest nicht verfolgen), kann man derzeit nur spekulieren – vielleicht wird das bald Inhalt von „Cablegate 2.0″… :-)

Die USA reagieren also ausgesprochen unentspannt, und haben wohl auch allen Grund dazu. Denn die Veröffentlichung des brisanten Materials trifft das Netzwerk der internationalen Diplomatie an ihrer empfindlichsten Stelle: der unbeobachteten und vertraulichen Kommunikation zwischen der Zentrale und ihren Außenstellen in fast allen Ländern der Welt.

Man könnte sich also einfach zurücklehnen und das Match „USA vs. Assange“ entspannt allabendlich in den Nachrichten verfolgen. Umso erstaunlicher ist es, daß sich derzeit eine weltweite Welle der Solidarisierung mit Wikileaks formiert. Die Betreiber hunderter Webserver in aller Welt haben sich spontan bereit erklärt, die Cablegate-Dokumente zu spiegeln und über die Facebook-Seiten von PayPal und Amazon ist ein „Shitstorm“ tausender empörter User losgebrochen, die ihrem Unmut durch Entzug ihres „Likes“ oder gleich durch Löschung ihres jeweiligen Kontos Ausdruck verleihen.

Die Dramaturgie der auf Monate hin angelegten kontinuierlichen Veröffentlichung brisanter Dokumente aus den Cablegate-Akten wird jedenfalls dafür sorgen, daß die Spannung erhalten bleibt und der Unmut der Bürgerinnen und Bürger ebenso kontinuierlich weiter wächst. Ob aus diesem Unmut die Verwirklichung einer anarchistischen Utopie erwächst bleibt dahingestellt. Eher wahrscheinlich ist wohl, daß letztendlich wieder nur rechtspopulistische und autoritäre Strömungen davon profitieren werden. Eine „wirkliche Gemeinschaft und Gesellschaft der Menschen“ ist mit oder ohne Wikileaks nicht in Sicht.

Michael Eisenriegler
Genealogie, (Online-)Medien, Journalismus, (Netz-)Politik, Mongolei, Buddhismus, Single Malts, Analogue Audio.

2 Kommentare

  1. Hallo Herr Eisenriegler,

    wenn Wikileaks, bzw. Assange also den Staat gleich ganz zerstören will, wie Sie interpretieren, dann drängend sich Fragen auf:

    – Sind die Wikileaks-Veröffentlichungen nicht von öffentlichem Interesse?
    – Ist Journalismus eine anarchistische Disziplin oder Teil einer funktionierenden Demokratie?
    – Ist nicht der Bürger der Souverän, der ein Recht hat zu wissen, ob er beispielsweise überwacht wird oder ob in seinem Namen ein Volk völkerrechtswidrig und unter Vorgaukelung einer Bedrohungslage überfallen wird?
    – Wie sieht Ihr Konzept von Demokratie aus, wenn der Bürger unmündig bleibt, weil ihm ein großer Teil der relevanten Informationen vorenthalten wird?

    Wenn nun also durch WL-Publikationen der Unmut der Bürger ggü. ihren jeweiligen Staaten wächst, ist dann dieser Unmut nicht berechtigt? Sollte der Bürger in seinem eigenen Interesse lieber dirigiertes Stimmvieh bleiben?

    Können Sie Ihren Gedankensprung erklären, wonach „rechtspopulistische und autoritäre Strömungen [vom Wikileaks-Modell] profitieren werden“?

    danke schon vorab für Ihre Erläuterungen!

    1. Bitte, der Artikel ist 11 Jahre alt. Ich kann mich nicht mehr genau an jeden meiner damaligen Gedankengänge erinnern.

      Ich habe damals versucht zu analysieren, welche Motivation Assange haben könnte und aus welcher geistigen Tradion (nämlich der Gustav Landauers) er schöpft. Ob das gut oder schlecht ist habe ich nicht beurteilt, wobei ich natürlich grundsätzlich schon mit Assange (und in Teilen auch mit Landauer) sympathisiere. Aus Ihren Fragen schließe ich jedenfalls, dass Sie mich grundlegend missverstanden haben müssen.

      Nur zur letzten Frage: Nachdem Anarchisten in der öffentlichen Wahrnehmung ja nicht besonders populär sind, ging ich davon aus, dass WikiLeaks (gewissermaßen als aufgelegtes Feidbild) den Rechten in den USA nützen wird. Ist das so abwegig?

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