Nanny-Staat vs. mündige Bürger

In den letzten Wochen ist die Diskussion über ausufernde staatliche Verbote und Einschränkungen der persönlichen und der Erwerbsfreiheit neu aufgeflammt. Robert Misik hat in seinem Videoblog vom 6. April 2015 die „Rhetorik von der Verbotsgesellschaft“ auf’s Korn genommen, aber auch einen „vernüftigen Kern“ in der Kritik am Nanny-Staat gefunden. Ich möchte nun an einem Beispiel illustrieren, warum wir wachsam sein sollten – und was die Alternativen sind.

Kennzeichnungspflicht für bearbeitete Werbefotos

Frauenministerin Heinisch-Hosek (SPÖ) hat vor wenigen Tagen eine alte Forderung wiederbelebt, wonach „mit Bildprogrammen bearbeitete Frauenkörper“ gekennzeichnet werden sollen, und zwar mittels Ampelsystem, je nach Grad der Bearbeitung. Ein Vorschlag, der natürlich auf den ersten Blick einleuchtet, denn wer will schon, dass die Mädchen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen von der Modeindustrie ein völlig falsches Körperbild vermittelt bekommen und später womöglich unter Anorexie oder Bulimie leiden und sich weiterhin zu tausenden auf „PRO-ANA“-Seiten tummeln?

Photoshop before-afterAuf den zweiten Blick finde ich den Vorschlag gruselig: Es gibt viele Dinge, die tagtäglich medial auf uns einströmen, die – vorsichtig ausgedrückt – gesellschaftlich nicht nützlich sind, zumindest nicht nach sozialdemokratischen Standards: Werbung für rechtsradikale Ideologien und Pornographie sind die Klassiker, aber auch Seiten, die Verschwörungstheorien verbreiten, die Werbung für dubiose Sekten machen oder die schlicht zum Verzehr von Fast Food und überzuckerten Limonaden, zum Rauchen oder zum Alkoholkonsum auffordern. Die Drogen und die Anleitungen zum Bombenbasteln darf man auch nicht vergessen. Und die Urheberrechtsverletzungen, natürlich.

Das Böse ist immer und überall, aber wollen wir das wirklich alles verbieten? Und, wenn ja, wie soll das praktisch funktionieren? Zeitungen kann man ja zur Not noch beschlagnahmen lassen, aber was ist mit dem Internet? Konsequenterweise, wenn wir das Primat der heimischen Verbotspolitik ernst nehmen wollen, brauchen wir eine „Great Chinese Firewall“, die nur noch das „gute Internet“ nach Österreich lässt und alles böse vor den Grenzen bleibt. Und, um zu den Modelbildern zurückzukommen: Nachdem die meisten von denen ja aus internationalen Quellen nach Österreich gelangen brauchen wir dann auch eine Provenienzforschung und eine spezialisierte Kripo-Abteilung, die mit forensischen Methoden falsch deklarierte Bilder ausfindig macht. Jedes zusätzliche Verbot schafft auch zusätzliche Arbeit für die Polizei und damit – zumindest potenziell – auch mehr Polizisten.

Konsequent weitergedacht führt also jede Art von Inhaltskontrolle in den Medien zum Überwachungsstaat, denn ein Staat, der seine eigenen Regeln nicht ernst nimmt und nicht durchsetzt hat eigentlich schon ausgedient. Ich weiß schon, wir sind in Österreich, und hier wird nicht alles so heiß gegessen wie gekocht, aber schon alleine die Tendenz und die immer gleichen Diskussionen zu diesen Themen bereiten mir Sorgen.

Was ist aber die Alternative? Bildung, Bildung, Bildung. Der Vorschlag mit dem Ampelsystem hat immerhin den Vorteil, dass das Publikum, das mangels Lesekompetenz ohnehin nur mehr die Bilder in den Zeitungen betrachtet, nicht überfordert wird. Aber haben wir uns wirklich schon damit abgefunden in einem Staat zu leben, in dem locker 20 % funktionale Analphabeten leben? Menschen, die nicht einmal mehr die Inhalte der trotzdem eifrig konsumierten Boulevardmedien (4 Mio. Österreicher und Österreicherinnen „lesen“ täglich Kronen Zeitung, Heute, oder Österreich) verstehen? Ist es nicht hoch an der Zeit, das Bildungssystem grundlegend neu zu denken?

Wie wäre es zum Beispiel, ein Fach „Medienkunde“ an den Schulen einzuführen, in dem die jungen Leute lernen, sich mit ihrer medialen Umwelt auseinanderzusetzen, in dem sie lernen, hinter die Kulissen zu blicken, Informationen selbst zu recherchieren und kritisch an Quellen heranzugehen? In dem sie lernen, zu reflektieren und sich selbst auszudrücken. Und, in dem sie lernen, wie manipulativ Werbung sein kann, nicht nur in der Bildbearbeitung, aber auch. Das ist nur ein Vorschlag und sicher kein Allheilmittel, aber in diese Richtung sollte sich die Diskussion meiner Ansicht nach bewegen.

In einem Land mit hohen Bildungsstandards braucht man weniger Verbote, denn mündige Bürger und Bürgerinnen können selbst besser beurteilen, was gut für sie ist. Das ist die Gesellschaft, in der ich leben möchte.

Praktischerweise ist die Frauenministerin auch Bildungsministerin, sie müsste also nur die Diskussion von einer Sektion ihres Ministeriums in die andere verlagern. Ich bitte darum.

Bildnachweis: Sebastien Guy, „retouche-photo“ – Some Rights Reserved.

Michael Eisenriegler
Genealogie, (Online-)Medien, Journalismus, (Netz-)Politik, Mongolei, Buddhismus, Single Malts, Analogue Audio.

Ein Kommentar

  1. Ich sehe noch nicht ganz, inwiefern so ein Hinweis nicht der Bildung dienen würde und sehe auch nicht ganz, wie das in der Linie des Nanny States stehen soll.

    Das hat aber auch mit der Wirkungsweise von Bildern zu tun, die sich m.E. schlecht auf diese Nanny-State-Annahme umsetzen lässt: Das allgemeine Wissen um Manipulation, wenn die im Bild nicht explizit ausgewiesen ist, spricht m.E. nicht so sehr Bände wie ein Hinweis _im_ Bild. Ich weiß natürlich, dass jedes gottverdammt magazinbild retuschiert ist, und trotzdem kann mich der Anblick eines Thigh Gap in seiner BIldlichkeit einschüchtern.

    Praktisch halte ich es jedoch nicht für umsetzbar – das ‚unbearbeitete Bild‘, das ‚Abbild der Wirklichkeit‘, dessen Existenz damit postuliert wird, gibt es einfach nicht.

    Und einen Katalog der Änderungen (nur Kontraste oder Farben manipuliert oder doch explizit über die Fältchen drüber gewischt) wird es ja wohl nicht bei jedem Bild dazugeben sollen. Ikonoklasmus, my ass!

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