Das „Europa der Völker“ ist eine Fiktion und ein Propagandabegriff. Das „Volk Europas“ wäre schon treffender, wie meine eigene Familiengeschichte zeigt.
Von (neu)rechten Gruppierungen wird gerne das angebliche „Europa der Völker“ als Vorwand dafür genommen, dass europäische Einheit und Einigung unmöglich, in irgendeiner Form „falsch“ und daher abzulehnen sind. Von der Gefahr der Durchmischung der Kulturen ist gerne die Rede und von der Aufrechterhaltung der eigenen kulturellen Identität. Auf der Website der „Identitären Bewegung Österreich“ liest sich das zum Beispiel so:
Identitär zu sein heißt für uns, mit vollem Einsatz für den Erhalt unserer ethnokulturellen Identität einzutreten. Unsere Identität ist für uns das Zusammenspiel aus unserer tradierten Kultur, unserem Bewusstsein, eine homogene, verwandte Gemeinschaft zu sein sowie der gemeinsamen Erinnerung an ihren Weg durch die Zeit.
(…)
Aus diesem Bewusstsein folgt die Erkenntnis um die Vielfalt der Identitäten, die Welt der tausend Völker und Kulturen, die je ihre eigene Geschichte, ihr eigenes Schicksal und ihre eigene Sprachwelt haben.
Die Fiktion besteht also anscheinend darin, dass Europa aus lauter einzelnen Völkern besteht, die eigentlich nicht viel miteinander zu tun haben und im besten Fall friedlich miteinander koexistieren und vielleicht noch ein bisschen Tourismus und Handel treiben. Dieses „Europa der Völker“ sei nun durch den europäischen Einigungsprozess gefährdet und alle möglichen unangenehmen Entwicklungen (die ich jetzt nicht einzeln aufzählen möchte) seien die Folge.
Einer der Stehsätze der Familienforschung besteht darin, dass, wenn man nur weit genug zurückgeht, ohnehin jeder mit jedem verwandt ist – spätestens bei Adam und Eva. Das ist allerdings auch nicht besonders hilfreich.
Ich habe mir daher meine eigene Familiengeschichte näher angesehen um herauszufinden, zu welchem „Volk“ ich eigentlich gehöre. Und ich musste nicht bis zu Adam und Eva zurückgehen um zu erkennen, dass genau dieses „Volk“ eine reine Fiktion darstellt. Kulturelle Identitäten wechseln oft schon innerhalb einer Generation und die Herkunft der Großmutter ist in den Köpfen der Enkerln nur noch eine Familienlegende, nicht mehr.
Ich gehe also nur vier Generationen zurück, zu meiner Ururgroßmutter. Sie stammte aus dem Aargau in der Schweiz, heiratete in Hohendorf-Neugattersleben (Sachsen-Anhalt) einen aus Böhmen stammenden Lokomotivführer und brachte dort auch meine Urgroßmutter zur Welt.
Diese Urgroßmutter heiratete in Brod (Kroatien) einen aus Brumov in Mähren gebürtigen Postbeamten, meinen Urgroßvater. Seine Eltern stammten aus Klosterneuburg (Niederösterreich) und aus Hohenmauth in Böhmen und lebten in Brünn (Mähren). Mein Urgroßvater war an unterschiedlichen Orten am Balkan stationiert, seine beiden Söhne kamen in Tuzla (Bosnien) zur Welt, seine Tochter (meine Großmutter) in Sarajevo (Bosnien).
Diese Großmutter ging nach dem Ende der Monarchie mit ihren Eltern nach Wien und heiratete dort einen aus Dölsach in Osttirol gebürtigen Polizeibeamten, meinen Großvater.
Mein Vater kam in Wien zur Welt und war folgerichtig – ein echter Wiener.
Die mütterliche Seite meiner Familie stellt sich ähnlich dar. Ein Ururgroßvater wanderte aus Gajary, einem ungarischsprachigen Dorf in der Slowakei (damals zu Ungarn gehörend), nach Wien aus. Die anderen Vorfahren aus seiner Generation waren zwar alle schon in Wien geboren, aber deren Eltern kamen ebenfalls aus vielen Teilen der Monarchie: aus kleinen Dörfern in Böhmen, aus Mährisch-Schlesien, aus Mähren, aus dem Weinviertel und aus dem Mühlviertel.
Meine Mutter ist also ebenfalls eine echte Wienerin – wäre sie nicht aus einem historischen Zufall in Steyr in Oberösterreich auf die Welt gekommen.
Kurz zusammengefasst: Meine „Volkszugehörigkeit“ (nach heutigen Staaten) erstreckt sich von der Schweiz über Deutschland, Tschechien und die ethnischen Ungarn der Slowakei, bis nach Bosnien und endet in Tirol, Oberösterreich, Niederösterreich – und Wien.
Was war nochmal das „Europa der Völker“?